Maria Ursprungs Eröffnungsrede fanfaluca 9
Eröffnungsrede von Maria Ursprung
«Als ich angefangen habe Theater zu machen, habe ich mir ein paar Jahre lang gewünscht, dass mir jemand verraten würde, wie das geht. Theater. Ich habe mir ein Regelwerk gewünscht, Spielregeln, an die ich mich halten kann und die mich immer leichtfüssig an ein Ziel führen.
Doch niemand hat mir endgültig verraten, wie Theater geht. Denn: Ich hatte das Glück, auf Menschen zu treffen, denen klar war, dass sie es trotz jahrelanger Erfahrung auch nicht wissen, nicht wissen können und es auch nicht müssen, und, und das ist wenig überraschend, dass alle Künstler:innen ihren eigenen Ausdruck finden müssen, sich die Regeln selbst geben müssen, weshalb es nicht erklärbar bleibt, wie das geht. Theater.
Meine Faszination für Regeln ist jedoch geblieben. Für diese Eröffnungsrede habe ich versucht meinem früheren Ich ein paar Spielregeln aufzuschreiben, die es sich vielleicht gewünscht hätte, als es angefangen hat Theater zu machen. Denn auch wenn mir niemand erklärt hat, wie es geht, Erkenntnisse und verstohlene Ratschläge gab es manchmal doch. Und einige davon möchte ich mit heute teilen.
16 Spielregeln fürs Theater an mein jüngeres Ich, wobei Nummer 15 die wichtigste ist.
- Finde heraus, warum du erzählen willst, bevor du anfängst zu erzählen.
- Finde heraus, was du erzählen willst, bevor du anfängst zu erzählen.
- Finde heraus, wie du erzählen willst, bevor du anfängst zu erzählen.
- Du darfst alles erzählen, aber entscheide dich sorgfältig und lustvoll. Nicht alles, was du erzählen kannst, musst du auch erzählen. Manches sollte von jemandem erzählt werde, der oder die mehr davon versteht oder betroffen ist.
- Zeige deine Begeisterung. Begeisterung ist ansteckend und erklärt vieles.
- Du musst nicht originell sein. Nichts, was du denken kannst, wird dir jemals besonders originell erscheinen, sonst könntest du es selbst nicht denken. Versuch nicht originell zu sein. Versuch nur zu machen, was du interessant findest und gern auf der Bühne sehen möchtest.
- Kopiere, wenn du feststeckst. Es ist normal, bei Kolleg:innen Ideen zu schöpfen. Man nennt das nicht Diebstahl, sondern Inspiration. Übersetze, was du toll findest in deine eigene Sprache oder mache deutlich, dass es ein Zitat ist und nicht deine Idee war – sonst ist es doch Diebstahl.
- Bejahe das Komplexe. Hab keine Angst vor komplexen Zusammenhängen und Themen. Die Welt wird immer komplexer werden: Algorithmen, Geldflüsse, Umweltkatastrophen, Psychologien: alles hängt zusammen, du kannst dich dem nicht entziehen, sondern es annehmen und weiterdenken.
- Erzähle nicht unnötig kompliziert, um komplex oder klug zu erscheinen.
- Sei dir deiner Privilegien bewusst. Du kannst deine Zeit nutzen, um Kunst zu machen. Das ist ein Privileg. Du kannst deine Stimme erheben. Das ist ein Privileg. Entschuldige dich nicht für deine Privilegien, aber vergiss auch nicht, dass dies nicht selbstverständlich ist.
- Akzeptiere die Veränderung. Dies gilt nicht nur fürs Theater. Lerne loszulassen. Lerne Veränderungen anzunehmen. Lerne Kontrolle abzugeben.
- Unterschätze nie dein Publikum. Sprich nichts aus, was nicht ausgesprochen werden muss. Erkläre nichts, was nicht erklärt werden muss. Trau deinem Publikum zu, Fragen selbst zu beantworten. Sie sind klug. Nimm sie ernst.
- Es ist nur Theater. Wenn du scheiterst, passiert dir nichts. Wenn du nicht weiterweisst, wird die Zeit eine Lösung finden. Wenn du zu wenig Zeit hast, wird etwas in zu wenig Zeit entstehen oder auch mal gar nicht. Mach Pausen. Pfleg Beziehungen. Besteige einen Berg oder leg dich auf eine Wiese. Definiere dich nicht über deinen Beruf, sonst bist du nicht frei genug, um ihn auszuüben.
- Feiere deine Erfolge, ob klein oder gross. Du darfst dich freuen und stolz sein, auf das, was du tust, egal was es ist.
- Mach einfach. Fang an. Tu es. Wenn du Theater machen willst, mach Theater – und wenn du etwas anderes machen willst, mach etwas anderes. Wenn du das Privileg hast, frei zu entscheiden, was du machen willst, nutze es. Egal wo und wann. Fang an. Es ist egal, ob du weisst, wie es geht. Versuch es niemandem recht zu machen, nur dir und vielleicht nicht einmal dir. Scheiss darauf, was jemand anderes denkt. Wirklich. Es ist scheiss egal, wer was über dich denkt. Mach deine eigenen Regeln und verwirf sie wieder. Brich sie. Mach, was du willst, aber mach etwas. Denn nur, wenn du anfängst, kannst du deine Regeln, deine Kunst, deine Erzählung finden, kannst du scheitern und wachsen und ändern und weitersuchen.
- Niemand wird dir erklären, wie deine Kunst geht, wonach du suchen sollst und was du erzählen willst. Drum: Warte nicht mehr. Fang an.»
Maria Ursprung schreibt und inszeniert. Seit 2022 ist sie Teil der Co-Leitung von Theater Marie.
Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik an der Universität Bern und der FU Berlin, später Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut. Inszenierungen u.a. am Thalia Theater Hamburg, Theaterhaus Jena, Konzerttheater Bern und in der freien Szene. Sie schreibt Theaterstücke, Hörspiele und Kurzprosa. Nebst Schauspiel inszeniert sie szenische Konzerte mit Orchester oder Musikerensembles, beispielsweise am Lucerne Festival, im Radialsystem Berlin oder auf Kampnagel Hamburg.
Ihr Stück «Schleifpunkt», entstanden in der Werkstatt für Szenisches Schreiben DRAMENPROZESSOR 2018/2019, wurde zu den Autor:innentheatertagen 2020 vom Deutschen Theater Berlin eingeladen und 2021 als Online-Produktion für Bildschirm und Kopfhörer von Theater Marie realisiert unter der Leitung von Patric Bachmann und Olivier Keller.
Hausautorin am Theater St. Gallen im Rahmen des Stück Labor Basel 20/21, wo ihr Stück «Die nicht geregnet werden» in der Regie von Marie Bues und Jonas Knecht uraufgeführt wurde. Hausautorin am Deutschen Theater Berlin im Herbst 2021. 2022 wurde ihr Klassenzimmerstück «Vakuum» am Jungen DT uraufgeführt, war sie Stipendiatin am Internationalen Forum im Rahmen des Berliner Theatertreffens und Hausgast am Literarischen Colloquium Berlin.
(Text: https://theatermarie.ch/team/maria-ursprung/)